Gesund einkaufen in der Drogerie

Die Reformhäuser entstanden vor über 100 Jahren aus der Lebensreformbewegung. Heute sind Reformprodukte auch in vielen Drogerien erhältlich.

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Heute ist ein gesunder Lebensstil sprichwörtlich in aller Munde. Das Bedürfnis, sich bewusst, regional und fleischlos zu ernähren, geht aber viel weiter zurück, sagt der Historiker Dr. Stefan Rindlisbacher. Als Kurator der Ausstellung «Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben» im Bernischen Historischen Museum (2020) hat er die Lebensreformbewegung der letzten 100 Jahre erforscht. Und dabei Spannendes herausgefunden. Beispielsweise wurden schon 1820 erste Vegetarier-Vereine gegründet, und zwar in Amerika. «Mich hat vor allem beeindruckt, wie weit solche Bewegungen zurückgehen. Schon um 1900 bot in der Schweiz das erste Reformhaus exklusive Produkte an, weil die Nachfrage nach gesunden, naturbelassenen und regionalen Lebensmitteln aufkam», sagt er. Damals wurden die Produkte allerdings nicht über den Ladentisch verkauft, sondern mit der Post versandt. Weil die Nachfrage stetig zunahm, eröffnete dann das erste Geschäft – das Reformhaus Egli in Zürich.

Problem Wohlstand

«Man muss bedenken, dass im 19. Jahrhundert die Industrialisierung für einen gesellschaftlichen Wandel sorgte. Wo man sich zuvor hauptsächlich vegetarisch ernährte, gab es nun Fleisch in Hülle und Fülle, auch zuckerhaltige und fettreiche Fertigprodukte kamen auf.» Dass sich dieser Wohlstand und eine neue Form des Konsums auf die Gesundheit auswirkte – Übergewicht, Herzprobleme und psychische Krankheiten waren die Folge –, veranlasste junge Menschen dazu, gesund und regional zu essen, auf Fleisch zu verzichten, Sport zu treiben und dadurch auch ein Statement zu setzen. «Natürlich war eine gesunde Lebensweise der grösste Antrieb. Aber es ging wohl auch darum, eine Pionierrolle einzunehmen und sich von der Masse abzuheben, sich frei von gesellschaftlichen Zwängen zu fühlen. Ein gewisser Idealismus war schon Anfang des 20. Jahrhunderts spürbar.»

Birchers Müesli

Beeinflusst wurde diese Bewegung von den Nachbarn aus Deutschland. Dort entstanden erste Reformhäuser, nachdem bekannte Naturheilärzte wie etwa Sebastian Kneipp, Johann Schroth und Theodor Hahn eigene Produkte auf den Markt brachten und eine Anhängerschaft gewannen. Aber auch in der Schweiz gab es einige schillernde Persönlichkeiten, erklärte Stefan Rindlisbacher: «Etwa Max Bircher-Benner, der 1904 ein erstes Sanatorium in Zürich gründete. Seinen Patienten gab er das Birchermüesli, um den Heilungsprozess von Magen-Darm-Beschwerden zu unterstützen. Er war ein Verfechter von Rohkost und leichten Speisen.» Das Birchermüesli hatte ursprünglich eine einfache Rezeptur: viel geraffelter Apfel, dazu etwas Haferflocken und gesüsste Kondensmilch.

Das Müesli erlangte Weltruhm und wird in unterschiedlichen Rezepturen heutzutage in vielen Schweizer Haushalten aufgetischt. Es war aber längst nicht das einzige Produkt, das Reformhäuser boten. «Beachtlich war die Auswahl an speziellen Broten mit speziellen Körnern und besonderen Getreiden. Und in den 1920er- und 1930er-Jahren kamen auch bereits vegane Produkte wie Mandelmilch oder Tofu ins Sortiment.» Weil die Nachfrage stetig stieg, erlebten die Reformhäuser blühende Zeiten. «Ich habe in einer Broschüre aus den 1930er-Jahren gelesen, dass es damals um die 50 Reformhäuser in der Schweiz gab.» Auch das Angebot wurde weiter ausgebaut. Neben Lebensmitteln kamen über die Jahre Naturheil- und Pflegeprodukte und irgendwann auch Kleidung, etwa aus atmungsaktiven Stoffen oder spezielle Sandalen, dazu.

Problem Bioboom

«Bis in die 1950er- und 1960er-Jahre ging es den Reformhäusern sehr gut, weil ihr Angebot exklusiv war. Sie verfügten über ein Alleinstellungsmerkmal. Erste Herausforderungen kamen in den 1980er- und 1990er-Jahren auf sie zu, als sich mit den Grünen eine neue Bewegung formte», erklärt Stefan Rindlisbacher. Mit ihnen kamen neue, eigene Läden dazu, und als dann einige Jahre später auch der Detailhandel anfing, Bioecken- und -regale einzurichten und stark aufzurüsten, gingen erste Reformläden bankrott. «Ich denke, es ist einigen Betrieben nicht gelungen, innovativ und zukunftsweisend zu denken. Die Kostenrechnung ging mit der deutlich günstigeren Bioware im Supermarkt nicht mehr auf.»

Wer am Ball und rentabel bleiben möchte, muss aufmerksam beobachten und nah am Kunden sein: Einen Schritt voraus sein, neue Foodtrends erkennen und ins Sortiment aufnehmen. Auch regionale Produkte von kleinen Produzenten sind heute gefragt, hingegen keine Massenware, die der Konsument auch im Supermarkt findet. Rindlisbacher rät dazu, nicht nur die langjährigen Stammkunden im Fokus zu haben, sondern auch Jugendliche und junge Erwachsene. «Sie waren es auch vor 100 Jahren, die gesunde Alternativen zur industrialisierten Ware forderten.» Stefan Rindlisbacher selber ist durch seine Arbeit an der Ausstellung achtsamer geworden, macht sich mehr Gedanken darüber, wo er seine Produkte bezieht. «Ich ernähre mich jetzt zwar nicht fleischlos, aber ich denke, ich ernähre mich gesünder.»

Autorin: Denise Muchenberger
Redaktion: Bettina Epper
Wissenschaftliche Kontrolle: Dr. phil. nat. Anita Finger Weber
Quellen
  • Drogistenstern

  • Dr. Stefan Rindlisbacher