Self-Tracking: Gut, besser, perfekt

Mit Smartphone und schlauen Gadgets ist es einfach wie nie, seine Schritte zu zählen oder den Schlaf zu überwachen. Das muss nicht per se schlecht sein – wenn es im richtigen Mass geschieht.

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Schöner, sportlicher, schlanker … Immer mehr Menschen optimieren ihr Aussehen, ihr Fitnessprogramm, ihre Ernährung. Kurz: Sie optimieren ihr Selbst. Sie wollen sich verbessern, wollen jeden Tag mehr Schritte tun, weniger Kalorien essen, mehr Muskeln aufbauen. Sie fragen sich: Was empfehlen Gesundheits- oder Ernährungsexperten und wie weit weiche ich von dieser Norm ab? Wo stehe ich im Vergleich zu meinen Freunden, im Vergleich zu Instagram-Stars? Im Vergleich zum meinem gestrigen Ich? Bin ich schlanker? Bin ich sportlicher? Bin ich schöner? Bin ich perfekt? Und wenn ja, wie bleibe ich es?

Um solche Vergleiche anstellen zu können, braucht der Selbstoptimierer Daten, er muss sich selber vermessen, täglich, stündlich, immerzu. Nie war das so einfach wie heute, Hilfe gibts aus der digitalen Welt: Apps, die Gesundheitsdaten erfassen oder die Zusammensetzung der Nahrung, die Qualität des Schlafes oder die Anzahl Schritte, gibt es zuhauf. Und sie werden benutzt: Rund 40 Prozent der 18- bis 29-jährigen Männer in der Schweiz stehen diesen sogenannten Wearables (siehe Kasten) positiv gegenüber, bei den Frauen sind es nur 16 Prozent. Das zeigt der «Sanitas Health Forecast 2020», für den landesweit 2000 Menschen befragt wurden. 31 Prozent der Männer können sich demnach sogar vorstellen, sich Mikrochip-Implantate einpflanzen zu lassen, um die Vitalfunktionen zu überwachen. Bei den gleichaltrigen Frauen sind es wiederum nur 16 Prozent.

Das Beispiel Schrittzähler führt eindrücklich vor Augen, wie rasant die Entwicklung vonstattengeht. Das zeigt eine Umfrage der Schweizer Forschungsstelle Sotomo aus dem laufenden Jahr. Bei einer ersten Umfrage 2018 hatten noch 20 Prozent der Befragten angegeben, die eigenen Schritte mit einer App aufzuzeichnen. Heute, zwei Jahre später, ist das Schrittzählen ein Massenphänomen. Die meisten haben es schon einmal ausprobiert, 43 Prozent tun es aktiv und rund die Hälfte davon haben deswegen ihr Verhalten geändert. Bis zu 50 Prozent sogar längerfristig.

Wearables

Wer Self-Tracking betreibt, tut dies oft mittels sogenannter Wearables, was so viel wie «Tragbares» bedeutet. Wearables sind kleine Computer, die man am Körper trägt wie beispielsweise eine Smartwatch oder einen Fitnesstracker. Die Geräte werden nicht nur von Selbstoptimierern benutzt, sie kommen zunehmend auch in der Medizin beispielsweise zur Langzeitüberwachung und in der Diagnostik zum Einsatz. Vom einfachen Schrittzähler über das Gerät, das ebenfalls verbrannte Kalorien zählt, bis hin zur Uhr mit EKG-Funktion gibt es so ziemlich alles: smarte Kleidung, die Körperwerte überwacht, Kopfhörer, die Fremdsprachen übersetzen, oder Brillen, die das Sichtfeld mit digitalen Informationen anreichern.

Auf Goethes Spuren

Körperdaten wie Gewicht, Kalorien oder den Blutdruck messen, aufzeichnen und bewerten, das tun die Menschen schon seit Jahrzehnten. Personen mit chronischen Krankheiten wie Diabetiker sind beispielsweise darauf angewiesen, Daten wie den Wert des Blutzuckers regelmässig zu bestimmen, um ihren Gesundheitszustand einzuschätzen und gegebenenfalls Massnahmen zu ergreifen.

Aber auch das Vermessen des eigenen Ichs unabhängig von gesundheitlichen Problemen war lange vor Facebook und Instagram bekannt. Schon der römische Kaiser Marc Aurel (121–180) schrieb in Briefen, wie viele Austern er am Tag gegessen hatte; der deutsche Dichter Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) führte während Jahrzehnten Tagebuch, worin er festhielt, wohin er gegangen war. Der amerikanische Politiker Benjamin Franklin (1706–1790) erstellte mit Anfang 20 eine Liste. Darauf schreib er 13 Tugenden wie Mässigung, Sparsamkeit oder Ehrlichkeit und entwarf eine Tabelle, in der er regelmässig seine Fortschritte in der Umsetzung dieser Tugenden eintrug.

Der Druck steigt

Und so ist es bis heute geblieben. Die Menschen streben danach, besser zu werden. Das muss erst einmal nichts Schlechtes sein. Aber eine Mehrheit der Befragten fühlt sich genötigt, die eigene Leistung immer wieder zu verbessern, 32 Prozent sehen sich durch die digitale Vermessung im Gesundheitsbereich stark unter Druck. Fast die Hälfte gab an, dass das Aufzeichnen von Gesundheitswerten sie stresst.

Doch nicht nur Druck und Stress steigen an, wie eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften aus dem Jahr 2018 aufzeigt. Eine Erkenntnis der Forscher: Die Menschen sehen ihren Körper zunehmend als Ergebnis der persönlichen Leistung und nicht mehr als biologisches Schicksal. Das Resultat davon lässt aufhorchen: Alle, die ihren Körper nicht scheinbaren Normen entsprechend hinbekommen, laufen Gefahr, diskriminiert zu werden. Im schlimmsten Fall kann das so weit führen, dass Krankheiten als Verlust von Selbstkontrolle und Selbstdisziplin gedeutet werden, obwohl der Betroffene daran ganz und gar keine Verantwortung trägt.

Autorin und Redaktion: Bettina Epper
Wissenschaftliche Kontrolle: Dr. phil. nat. Anita Finger Weber
Quellen
  • Drogistenstern

  • Universität Passau

  • Miriam Meckel: «Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking», Piper, 2018

  • Michael Hermann, Gordon Bühler, Alfonso Gonzales: «Monitor ‹Datengesellschaft und Solidarität›», Forschungsstelle Sotomo im Auftrag der Stiftung Sanitas Krankenversicherung, 2020

  • Ursula Meidert, Mandy Scheermesser, Yvonne Prieur, Stefan Hegyi, Kurt Stockinger, Gabriel Eyyi, Michaela Evers-Wölk, Mattis Jacobs, Britta Oertel, Heidrun Becker: «Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin», vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 2018

  • Sanitas (Hrsg.): «Der Sanitas Health Forecast. Die Gesundheit der Zukunft», Wörterseh, 2020