Ernährung als neue Religion

Im Internet wimmelt es von selbst ernannten Ernährungsexperten, für viele Menschen hat der Wunsch nach gesundem Essen fast religiöse Züge angenommen. Verloren geht gleichzeitig das Wissen, was eine ausgewogene Ernährung und ein gesundes Essverhalten wirklich sind.

Ein Gespräch mit Ernährungswissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Brombach.

Frau Brombach, was ist gesunde Ernährung?

Prof. Dr. Christine Brombach: Eine Frage von Menge und Auswahl. Auch ein gesundes Lebensmittel kann ungesund werden, wenn ich zu viel oder ausschliesslich davon konsumiere. Es gibt aber auch eine krankhafte Verhaltensweise von gesunder Ernährung, wenn Menschen alles nach ihrer Vorstellung von gesund und ungesund kategorisieren und darüber Freude und Genuss am Essen verlieren.

Eigentlich sind all die Sorgen über gesunde Ernährung ja ein Luxusproblem.

Ja. Ein Viertel der Menschheit hungert, es sterben immer noch täglich weltweit viele Menschen an Hunger und Unterernährung. In unserer Gesellschaft aber werden Körper durch das Essen quasi modelliert, ganz nach dem Motto: «Schaut her, ich habe mich selbst erschaffen, und alle, die das nicht können, sind selber schuld!»

Warum können das denn so viele nicht?

Das hat viele Ursachen, eine davon ist, dass wir alles auf einmal ändern wollen. Das schafft kein Mensch. Ändern Sie immer nur einen Aspekt.

Zum Beispiel?

Wenn ich mich gesünder ernähren will, sollte ich mir vornehmen, immer erst einen Aspekt zu ändern, beispielsweise in der Kantine vor der Hauptmahlzeit immer einen Salat zu essen. Das ist schon ein riesiger Gewinn. Wenn das Routine geworden ist, kann ich das Nächste anpacken. Kleine Schritte führen zum Erfolg. Ich will alles jetzt und gleich, das funktioniert nicht.

Obwohl das im Internet so gesagt wird?

Das wird uns zwar effektiv so verkauft, aber es geht nicht.

Prof. Dr. Christine Brombach

Prof. Dr. Christine Brombach ist seit 2009 am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil (ZH) tätig. Sie studierte in Giessen (D) und Knoxville, Tennessee (USA) Ernährungs-und Haushaltswissenschaften. Nach dem Diplom in Giessen erwarb sie sich einen Master of Science in Nutrition mit dem Schwerpunkt Gerontologie in Manhattan, Kansas (USA). Sie promovierte an der Universität Giessen zum Thema «Ernährungsverhalten von Frauen über 65 Jahre». Für vier Jahre leitete sie als Projektkoordinatorin die Nationale Verzehrsstudie II am Max Rubner-Institut. Christine Brombach ist verheiratet und hat drei Kinder.

Gibt es keine einfachen Rezepte für eine gesunde Ernährung?

Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung gibt sehr anschauliche Empfehlungen. Doch bekanntlich steckt die Krux im Detail, hier auf der individuellen Ebene: Was bedeuten diese Empfehlungen genau für mich, und wie setze ich diese dauerhaft im Alltag um?

Also wirklich keine allgemeingültigen Regeln?

Doch, es gibt Empfehlungen: 1. Überwiegend pflanzenbasierte Kost essen, mindestens zwei Portionen Früchte und drei Portionen Gemüse täglich. 2. Wenn Alkohol, dann nur in Massen. 3. Fleisch und Fleischprodukte nur in Massen, das heisst, weniger als 500 Gramm pro Woche. 4. Nicht rauchen. 5. Viel bewegen, mindestens 10'000 Schritte täglich. Diese Prinzipien sind in Studien immer wieder belegt worden. Man könnte eine 6. Regel dazustellen: Möglichst vieles selber herstellen und kochen. Damit habe ich die Kontrolle darüber, was ich esse.

Wer hat dafür schon Zeit?

Genau hier liegt das Problem. Wir leben in einem hochindustrialisierten Land, sind alle am Arbeiten – Sie und ich gerade in diesem Moment. Also, wie bekomme ich es hin, dass ich rechtzeitig zum Mittag etwas zu essen zu Hause habe? Und wie verarbeite ich das rasch, sodass ich auch meine Familie versorgen kann?

Ja, wie?

Ich habe drei Kinder und bin voll berufstätig und weiss, wie schwierig das oft ist. Ich will ja auch eine gewisse Abwechslung, und es soll schmecken und gesund sein. Wir haben in der Regel knapp 30 Minuten fürs Kochen einer Mahlzeit. In so kurzer Zeit stellt niemand täglich alles selber her. Und dann kommt noch dazu: Wir sind bequem. Hier helfen uns bestimmte Convenienceprodukte. Wenn ich einmal wenig Zeit habe, kann ich zum Beispiel einen vorgeschnittenen Salat kaufen, Tiefkühlgemüse ist hervorragend geeignet, um zum Beispiel schnell eine schmackhafte Gemüsepfanne zuzubereiten.

Gibt es etwas, die Sie nie essen würden?

Es gibt wenig, was ich nicht mag. Ich würde zumindest das Unbekannte probieren. Wenn ich aber sicher weiss, dass ein Lebensmittel ausbeuterisch hergestellt oder mit bestimmten Methoden wie durch gentechnische Veränderungen verarbeitet wurde, dann hätte ich Mühe. Nicht, weil es grundsätzlich ungesund oder gefährlich wäre, sondern weil ich überzeugt bin, dass wir eine ökologisch sinnvolle Landwirtschaft betreiben können.

Wir haben so wunderbare Lebensmittel in der Schweiz und eine Vielfalt wie noch nie zuvor. Lasst uns das Essen geniessen und dankbar sein, dass es uns so gut geht. Lebensmittel sind wertvoll, und Genuss hat auch mit Wertschätzung zu tun. Wertschätzung gegenüber jenen, die das Lebensmittel hergestellt, verarbeitet, transportiert haben. Sie alle sind mit dem Essen sorgsam umgegangen. Warum also soll ich es missachten, indem ich es verschwende und vergeude?

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Autorin und Redaktion: Bettina Epper
Wissenschaftliche Kontrolle: Dr. phil. nat. Anita Finger Weber
Quellen
  • Drogistenstern

  • Ernährungswissenschaftlerin Prof. Dr. Christine Brombach