Traditionelle tibetische Medizin

Die traditionelle tibetische Medizin (TTM) zählt zu den ältesten Heilmethoden der Welt. Sie behandelt jeden Menschen als Individuum und strebt das innere Gleichgewicht der Kräfte im Körper an.

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Wenn die tibetische Ärztin Dönckie Emchi eine Sprechstunde vereinbart, versendet sie im Vorfeld immer ein E-Mail. Darin sind neben Informationen auch Anweisungen zur Vorbereitung enthalten: Am Vortag möglichst keinen Wein, keine Frucht- und Vitaminsäfte sowie keinen Kaffee konsumieren. All dies könnte den Urin verändern – und eine Urinanalyse nach der traditionellen tibetischen Medizin (TTM) ist Teil der ersten Sitzung.

Weil es ebenso eine Pulsdiagnose gibt, sind auch körperliche Anstrengungen unmittelbar vor der ersten Sitzung ungünstig. Ausserdem steht in dem Mail die Bitte, allfälligen Nagellack zu entfernen, damit Emchi eine Nageldiagnose durchführen kann. Auch die Zunge begutachtet sie in einem ersten Gespräch.

Ganzheitlicher Ansatz

Nach spezifischen Leiden und Schmerzen hingegen fragt Emchi erst mal nicht, sie möchte unvoreingenommen auf eine Patientin oder einen Patienten eingehen können. «Bei der traditionellen tibetischen Medizin arbeiten wir nicht darauf hin, ein bestimmtes Symptom zu behandeln, sondern versuchen, mit ganzheitlichen Ansätzen darauf zu kommen, wie ein Schmerz überhaupt entsteht.» Dafür berücksichtigt Emchi allerlei Faktoren wie Charakter, Alter, Lebensgewohnheiten oder die Ernährung, aber auch die Klimazone, in der jemand lebt. Sie stellt viele Fragen, die bis zur Geburt zurückgehen. Solche zu speziellen Ereignissen in der Kindheit, der Jugend und im Erwachsenenalter etwa, denn traumatische oder anderweitig prägende Erlebnisse könnten sich längerfristig auf die Organe beziehungsweise auf die Lebensenergie auswirken, erklärt die tibetische Ärztin.

Dönckie Emchi

Studiert hat Dönckie Emchi sechs Jahren lang an einer renommierten Hochschule in Lhasa/Tibet. Seit neun Generationen ist ihre Familie mit der Heilkunde der TTM vertraut, ihr Vater war einer der Ersten, der sie in der Schweiz praktizierte. Dönckie Emchi hat zuerst eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin absolviert, bevor sie dem Wunsch des Vaters folgte und sich in Tibet für das Studium bewarb. Das sei herausfordernd und lernintensiv gewesen, erklärt sie, stundenlang habe sie damit verbracht, tibetische Schriften und traditionelle Medizinalbücher auswendig zu lernen. Seit 1997 hat sie den Doktortitel in tibetischer Medizin und arbeitet heute in Zürich und Österreich. Ausserdem engagiert sie sich für die Verbreitung und Anerkennung der noch eher unbekannten Heilmethoden aus Zentralasien bei uns im Westen. Weitaus populärer sind die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und Ayurveda. «Die TTM vereint viele Elemente aus diesen beiden Heilmethoden, und dennoch hat sie über die Jahrhunderte eigenständige Methoden entwickelt, wie beispielsweise die Blutsäfte-Therapie durch Aderlass, um das Blut zu reinigen.»

www.tibetmedizin.org

Die Konstitutionslehre

Die TTM basiert auf der sogenannten Konstitutionslehre, die besagt, dass jeder Mensch von Geburt an über drei Körperprinzipien verfügt: Wind (tibetisch Lung), Galle (tibetisch Tripa) und Schleim (tibetisch Bedken). Lung steht für das bewegende, Tripa für das wärmende Prinzip und Bedken widerspiegelt den stabilisierenden und kühlenden Aspekt im Organismus. Eines oder mehrere der drei Prinzipien können bei einem Menschen stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Diese Typenbestimmung nimmt Dönckie Emchi in der ersten Sitzung vor.

Kommt diese individuelle Zusammenstellung beispielsweise durch Stress oder falsche Ernährung aus dem Lot, entstehen Krankheiten. Dazu ein Beispiel: Eine Person hat eine ausgesprochene Winddominanz, ist ständig in Bewegung und kommt auch innerlich nur schwer zur Ruhe – also wird in der Folge mittels Ernährung, verhaltenstherapeutischer Massnahmen, Kräutertherapie, Massagen etc. eine windreduzierende Therapie angestrebt, um den Körper wieder zu erden beziehungsweise zurück in Balance zu bringen.

Geist und Körper im Einklang

Zentral sei bei der tibetischen Medizin, jeden Menschen einzeln zu betrachten, ein Gespür für sein Wesen, seine geistige Haltung, seine Blockaden zu entwickeln und mit nachhaltigen Ansätzen die gesamte Lebenssituation zu verbessern. «Nur wenn wir Geist und Physis wieder in Einklang bringen, verschwinden beispielsweise Schmerzen, Hautunreinheiten, Verdauungsprobleme oder psychische Beschwerden», sagt Emchi.

Die drei Geistesgifte

Lung/Wind

  • Element: Luft

  • Eigenschaften: leicht, beweglich, kühl, rau, hart, trocken, subtil

Tripa/Galle

  • Element: Feuer

  • Eigenschaften: heiss, scharf, ölig, trocken, übel riechend, flüssig

Bedken/Schleim

  • Elemente: Erde und Wasser

  • Eigenschaften: kühl, schwer, stabil, stumpf, fest, klebrig

Die TTM legt viel Wert auf die Ernährungslehre. «Als Erstes versuche ich es immer mit einer Ernährungsumstellung nach der Konstitutionslehre. Begleitend dazu empfehle ich Rituale und Übungen, die den Geist beruhigen und stärken.» Die traditionell tibetischen Kräuter und Nahrungsergänzungsmittel, die eine Therapie ergänzen können, stammen allesamt aus den Regionen des Himalajas. Zu Pillen gedreht, werden diese Pflanzen, Kräuter, Wurzeln, Früchte und Mineralien für spezifische Beschwerden eingesetzt.

Auch äusserliche Anwendungen wie Schröpfen, Massagen oder Medizinalbäder sind in der tibetischen Medizin verbreitet, dazu Klangschalen und wärmende Wickel. «Wie bereits betont: Es gibt nicht die eine richtige Therapieformel, die wir anwenden. Bei uns stellen wir das Individuum ins Zentrum. Und jeder Mensch ist anders – eben ein Individuum.»

Autorin: Denise Muchenberger
Redaktion: Bettina Epper
Wissenschaftliche Kontrolle: Dr. phil. nat. Anita Finger Weber
Quellen
  • Drogistenstern

  • Dönckie Emchi, tibetische Ärztin