«Googeln taugt nicht zum Lernen»

Computer lassen unser Gehirn verkümmern – sagt Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer.

Smartphone oder Tablet sind immer dabei. Insbesondere Kinder und Teenager können die Finger nicht von den elektronischen Geräten lassen. Doch was passiert mit dem menschlichen Gehirn, wenn es ständig online ist? Professor Dr. med. Dr. phil. Manfred Spritzer hat sich in seinem Buch «Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen» dem Thema angenommen. Im Interview erklärt er, weshalb Computer schlecht fürs Hirns sind.

Manfred Spitzer, welchen Einfluss haben digitale Medien auf die Gehirnstruktur?

Prof. Manfred Spitzer: Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Damit erleichtern sie uns das Leben, ähnlich wie etwa Autos uns die Fortbewegung erleichtern. Autos sind jedoch keine guten Sportgeräte. Das heisst: Wer viel Auto fährt, der wird nicht sportlicher, sondern träger, weil seine Muskeln schrumpfen und sein Kreislauf untrainiert ist. Nichts anderes geschieht, wenn wir geistige Arbeit aus dem Gehirn in eine Maschine auslagern: Wer sich beständig von seinem Navi die Richtung ansagen lässt und nicht mehr selbst überlegt, wo es langgeht, der verliert langfristig die Orientierung. Wer alles mit dem Taschenrechner multipliziert, wird irgendwann einmal nicht mehr gut Kopfrechnen können.

Dann machen digitale Medien dumm?

Solange man gezielt Informationen im Netz sucht, ist das Internet heute für den geistig arbeitenden Menschen ein Segen. Anders ist es, wenn es um Lernprozesse geht. Amerikanische Wissenschaftler der beiden renommierten Universitäten Harvard und Columbia haben vor zwei Jahre herausgefunden, dass bei der Aufnahme von Informationen aus einem Buch, einer Zeitung, einer Zeitschrift oder durch Google die Wahrscheinlichkeit, dass diese Information im Kopf hängen bleibt, bei Google am geringsten ist. Zum Lernen und für Bildungsprozesse allgemein taugt deswegen Google weniger als die anderen genannten Medien. Wenn man nun noch beispielsweise das Vorbereiten und Halten von Referaten mit neuen Medien durch bessere Noten belohnt und damit das Arbeiten mit Büchern und Zeitschriften bestraft, dann führt dies keineswegs zu besseren Lernleistungen!

Gibt es überhaupt eine sinnvolle Anwendung von Google?

In der Schule sollten junge Menschen Google nicht verwenden. Denn zum Googeln braucht man Allgemeinwissen – und dieses hat die geringste Chance, sich zu entwickeln, wenn man Google als Wissensvermittler statt Bücher und Zeitschriften verwendet. Die Medien selbst verbreiten derzeit ein sehr eigenartiges, verzerrtes Bild von dem, was Wissen ist. Im Fernsehen wird man zum Beispiel Millionär, wenn man Fragen beantworten kann wie: «Welcher hinterindische Nacktfrosch kann bei minus 4 Grad kopulieren?» Unter Wissen verstehen die Menschen heute zusammenhanglose Fakten. Gerne wird dann noch behauptet, dass man heute überhaupt kein Wissen mehr bräuchte, weil man ja alles googeln könne und dass es nur noch auf «Kompetenzen» ankäme. Das alles ist grober Unfug! Denken Sie sich einmal bei einem Arzt oder Ingenieur dessen Wissen weg und stellen Sie sich dann die Frage, worin seine Kompetenz besteht! Kompetent ist jemand, der etwas weiss und dieses Wissen anwenden kann. Kompetenz ohne Wissen gibt es nicht.

Wie eignet sich das Gehirn Wissen an?

Etwa in den ersten Lebensjahrzehnten bildet sich unser Gehirn durch seine Benutzung. Das heisst hunderte Milliarden Nervenzellen vernetzen sich, dadurch, dass wir sie in vielfältigster Hinsicht gebrauchen. In unserem Gehirn gibt es keine Verarbeitungseinheit und Speichereinheit wie bei einem Computer. Es gibt sehr viele Nervenzellen, deren Benutzung zu ihrer Vernetzung und damit zur Leistungssteigerung führt. Die Nervenzellen sind zugleich Speicher und Verarbeitungseinheit. So kann man verstehen, wie es der vielfältigen Erfahrungen bedarf, damit sich unser Gehirn optimal ausbildet.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer ist Jahrgang 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg im Breisgau/D. Weiterbildung zum Psychiater, 1989 Habilitation in Psychiatrie. 1990-97 Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg/D. Gastprofessuren an der Harvard-Universität, Forschungsaufenthalt am Institut for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon/USA. Seit 1997 Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie der Uni Ulm/D, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. 2004 gründete er das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm.

Sie sagen, dass digitale Medien dement machen. Was bedeutet das genau?

Demenz heisst wörtlich übersetzt geistiger Abstieg. Bei jedem Abstieg gilt: Je höher man anfängt, desto länger dauert es, bis man unten ankommt. Wer von einer Sanddüne zum Meer läuft, ist schnell da. Wer hingegen vom Gipfel des Mount Everest bis auf Meereshöhe absteigt, kann lange hinuntergehen und sich dennoch gleichzeitig auf grosser Höhe befinden. Hierin besteht nun die Verbindung zwischen mangelnder Gehirnbildung in Kindheit und Jugend einerseits und früherem geistigem Abbau im Alter andererseits. Je geringer die Höhe der Gehirnbildung ist, die ein junger Mensch erreicht, desto früher ist er bei geistigem Abstieg im Alter ganz unten.

Unsere Gesellschaft kommt nicht mehr ohne digitale Medien aus. Wie soll sie sich also vor der digitalen Demenz schützen?

Wer um diese Zusammenhänge weiss, wird kritisch mit Medien umgehen, und für den ist auch klar, dass die derzeit in Deutschland bestehende Nutzung von Internet und Computer durch junge Menschen – im Durchschnitt 7,5 Stunden pro Tag – ungünstige Auswirkungen hat. Die Dosis macht das Gift! Deswegen ist es wichtig, dass wir Erwachsenen dafür sorgen, dass junge Menschen weniger Zeit als heute mit digitalen Medien verbringen. Wichtig ist auch eine gute Gehirnbildung in den ersten zwei Lebensjahrzehnten. Da digitale Medien hierfür hinderlich sind, sollte der Umgang in Massen erfolgen. 7,5 Stunden täglich sind definitiv zu viel!

Gilt das auch für Erwachsene?

Ob jung oder alt: Nur wer sein Gehirn benutzt, bleibt geistig fit – ganz ähnlich wie bei Muskeln. Ich werde täglich gefragt, was man denn als älter werdender Mensch tun kann, um sich geistig fit zu halten. Vergessen Sie die Kreuzworträtsel, Sudokus und all diese computerisierten Trainingsprogramme gegen Demenz. Schaffen Sie sich einen Enkel an. Denn dieser ist unbequem und kompliziert, und genau das braucht Ihr Gehirn, um so richtig gefordert zu sein. Zudem sind es Sozialkontakte, die insgesamt für uns Menschen und gerade im Alter sehr wichtig sind. Umgekehrt sind auch Sie für den Enkel besser als irgendwelche elektronischen Medien. So hat jeder etwas davon.

Wie sieht die Zukunft aus?

Werden die Gehirne junger Menschen an der Entwicklung ihres vollen Potenzials gehindert und zudem mit allem möglichen Unfug «vermüllt», müssen wir uns in der Tat im Hinblick auf die nächsten Jahrzehnte Sorgen machen: Wer verdient unseren Wohlstand, wenn wir alt sind? Wer sorgt für den innovativen Fortschritt, auf dem unser aller Wohlstand beruht? Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Zu viel steht auf dem Spiel. Wir müssen etwas ändern und den Konsum digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen kritisch betrachten.

Einige Ihrer Kollegen werfen Ihnen Angstmacherei vor.

Im Grunde haben die Gegner kaum wirkliche Argumente, weshalb sie vor allem meine Person kritisieren und Behauptungen aufstellen, die unhaltbar sind. Hierzu ist zu sagen, dass wir nichts Besseres als Wissenschaft haben und dass derjenige, der ein Auto besteigt, ein Medikament einnimmt oder einfach nur die Zentralheizung aufdreht, schon längst unterschrieben hat, dass er das wissenschaftliche Weltbild akzeptiert.

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Autorin: Ann Schärer
Redaktion: Bettina Epper
Quelle
  • «Drogistenverband»