Der Reiz des Rabatts

Shoppen gibt vielen Menschen das Gefühl, jemand zu sein. Deshalb geben sie auch Geld aus für Dinge, die sie gar nicht brauchen. Aber längerfristig macht Kaufen nicht glücklich.

Das war knapp! Das letzte neue Smartphone noch in letzter Sekunde erwischt, bevor es sich jemand anderes geschnappt hätte. An Rabatttagen im November wie dem «Black Friday» oder dem «Cyber Monday», an denen in Schweizer Läden und online vieles teils massiv billiger zu kaufen ist, kämpfen Hunderte um die besten Schnäppchen – manche mit Ellbogeneinsatz. Warum in unserer Gesellschaft übermässig geshoppt wird und sich Menschen dabei auch mal rücksichtslos verhalten, Psychotherapeut Rolf Jud hat Antworten auf diese und andere Fragen.

Herr Jud, Ende November sorgen der «Black Friday» und der «Cyber Monday» wieder für einen Grossansturm auf Läden und Onlineshops. Warum können viele Menschen dem Reiz des Rabatts nicht widerstehen?

Rolf Jud, lic. phil.: Viele haben an Rabatttagen das Gefühl, «heute bekomme ich endlich etwas, das ich bezahlen kann». Ein Produkt wird durch einen günstigeren Preis plötzlich erreichbar. Dadurch kaufen viele auch Dinge, die sie vielleicht gar nicht brauchen.

Warum gibt der Mensch Geld aus für Sachen, die er nicht braucht?

Mit dem Rabatt verbunden ist ein Gewinn oder überspannt gesagt Profit. «Ich gewinne, weil ich etwas günstiger erhalte.» Und dann bleibt vielleicht erst noch Geld übrig für etwas anderes.

Woher kommt diese Profitgier?

In Wohlstandsländern wie der Schweiz definieren sich sehr viele stark über ihren Besitz. Ob das in der Natur des Menschen liegt oder Konditionierung ist, kann ich nicht sagen. Aber man weiss, dass schon die Höhlenmenschen stolz ihre Jagdtrophäen präsentiert haben nach dem Motto: «Ich habe etwas, das du nicht hast. Deshalb bin ich etwas Besonderes.» Oder die alten Ägypter. Sie haben immer noch höhere und bessere Pyramiden gebaut. Auch sie wollten so signalisieren, dass sie ein besonderes Volk sind. Damals wie heute geht es um Anerkennung und Status, was dem Menschen das Gefühl gibt, wertvoll zu sein. In reicheren Ländern sind Gegenstände Statussymbole. Wenn man diese dann auch noch günstiger bekommt, motiviert das viele zum Kauf.

Hat Kauflust also mit einem geringen Selbstwertgefühl zu tun?

Ja. Viele müssen, teils unbewusst, etwas Gegenständliches besitzen, damit ihr Wert sichtbar wird und um zu zeigen, wie toll und interessant sie sind. Das gilt beispielsweise auch für Ausbildungen, sportliche Leistungen oder Jobs. Ein Diplom oder eine Arbeit hat nämlich nichts mit der Persönlichkeit zu tun. Es ist etwas, das man besitzen kann. Leider definieren wir in unserer Gesellschaft viel zu viel über materielle Dinge.

Aber Shoppen macht doch Spass!

Ja, aber er hält nicht an. Kaufen wir etwas, gibt uns das nur kurze Zeit, in der das Belohnungszentrum im Gehirn angeregt ist, ein gutes Gefühl. Danach flaut es schnell wieder ab.

Einkaufverhalten

Kaufen Sie Dinge, die Sie nicht brauchen?

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Was macht glücklicher als Einkaufen?

Ich glaube, das höchste aller Glücksgefühle ist die Selbstverwirklichung. Aber die meisten Menschen wissen gar nicht, was das für sie ist. Und selbst wenn sie es wissen, haben viele keine Ahnung, wie sie es erreichen könnten. Meistens ist der Weg zur Selbstverwirklichung anstrengend oder mühsam, und es besteht die Gefahr zu scheitern. Das macht Angst. Vielen fällt es einfacher, sich über materielle Dinge zu verwirklichen. Etwas kaufen geht einfach und schnell. Und was die meisten Menschen auch zufriedener machen würde: Wenn sie sich nicht ständig mit anderen verglichen. Beim Vergleichen scheitert man immer, weil es immer jemanden gibt, der noch mehr hat. Wer aber nicht vergleicht, findet inneren Frieden.

Und wie erreicht man das?

Das ist sehr schwierig, aber lernbar. Es hilft, wenn man sich die Frage stellt: «Mache ich etwas, weil ich sein will wie jemand anderes?» Wenn man diese Frage mit Ja beantwortet, vergleicht man sich. Um möglichst vom Vergleichen wegzukommen, muss man persönliche Werte definieren und seine eigene Welt konstruieren, in der man möglichst nur das tut, was für einen stimmt und sich natürlich anfühlt.

Ticken Menschen in ärmeren Ländern anders?

Nicht anders, aber ich glaube, sie sind bescheidener. Für sie geht darum, überhaupt genug zu essen zu haben, um zu überleben. Aber wir haben mehr von allem, was wir jemals gebrauchen. Wir sind verwöhnt. Wir sind ausgereizt in den einfachen Dingen des Lebens.

Wie kann man sich lösen von der materiellen Welt?

Bevor ich etwas kaufe, frage ich mich immer zuerst, «brauche ich das wirklich?». Und wenn die Antwort Nein ist, kaufe ich es nicht.

Diese Gier kann so stark sein, dass Leute beim Einkaufen anfangen zu drängeln, mit Ellbogeneinsatz um die besten Schnäppchen kämpfen oder anderen gar Produkte aus den Händen reissen. Warum dieses rücksichtlose Verhalten?

Dann geht es an und für sich nicht mehr um den Gegenstand, sondern um Kampf. Es geht darum, ein heroisches Gefühl zu haben. «Ich bin die Erste und Beste oder der Erste und Beste.» Menschen, die kämpfen, handeln nicht mehr rational, sondern emotional. Sie sind dann beispielsweise euphorisch oder aggressiv. Manche Menschen verlieren aufgrund ihrer Emotionen die Selbstkontrolle. Es klöpft und tätscht!

Autorin und Redaktion: Vanessa Naef
Quellen
  • Rolf Jud, lic. phil.