Gefühle

«Emotionen dienen dem Überleben»

Die richtige Reaktion kann einem das Leben retten. Wie jemand emotional reagiert, hängt aber nicht nur von der Situation ab, sondern vor allem von der individuellen Lebensgeschichte.

Gefühle sind allgegenwärtig. Oft sind sie hilfreich, manchmal aber überborden sie. Warum Menschen überhaupt fühlen und ob Emotionen auch gesteuert werden können – Professorin Dr. Monique Pfaltz hat Antworten auf diese und andere Fragen.

Frau Professor Pfaltz, warum haben Menschen Gefühle?

Prof. Dr. Monique Pfaltz: Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass Emotionen wichtig sind für das Überleben, indem sie unser Verhalten steuern. Empfinden wir Ekel beim Anblick verdorbener Lebensmittel, dann essen wir sie nicht und sie können uns nicht schaden. Manche Forscher vermuten sogar, dass selbst die Gesichtsausdrücke, die mit bestimmten Emotionen einhergehen, eine Schutzfunktion haben. Wer sich ekelt, rümpft die Nase. Dadurch können weniger Giftstoffe in den Körper gelangen. Oder wer vor Überraschung die Augen weit aufreisst, kann seine Umgebung besser erkennen und entsprechend richtig handeln. Zudem haben Emotionen häufig eine kommunikative Funktion.

Was bedeutet das?

Wenn wir beide im selben Raum sind und ich mache ein ängstliches Gesicht, drehen Sie sich wahrscheinlich um und sehen nach, ob irgendwo eine Gefahr lauert. Ihr Herz schlägt schneller und Sie wären in der Lage, sich zu wehren, wäre da tatsächlich etwas Gefährliches. Oder wenn ich Sie anlächle, kann ich Ihnen signalisieren, dass ich bereit bin für eine Kontaktaufnahme und dass jetzt ein guter Zeitpunkt für dieses Interview ist.

Prof. Dr. Monique Pfaltz

Prof. Dr. Monique Pfaltz ist Assistenzprofessorin für Klinische und experimentelle Psychophysiologie am Universitätsspital Zürich.

Warum reagieren manche Menschen emotionaler als andere?

Ob wir auf bestimmte Situationen emotional reagieren und auf welche Art, hängt stark mit unseren Erfahrungen zusammen. Unser Hirn ist darauf ausgelegt, zu lernen und Verknüpfungen herzustellen. So können Menschen und Tiere lernen, auf bestimmte Dinge mit Angst zu reagieren. Setzt man Mäuse wiederholt elektrischen Schlägen aus und spielt jedes Mal dazu einen bestimmten Ton ab, wird die Maus lernen, schon beim Hören des Tons allein eine Furchtreaktion zu zeigen, selbst ohne elektrischen Schlag. Sie hat den ursprünglich neutralen Reiz des Tons mit dem negativen Reiz des Schlags verbunden.

Und wie sieht das bei Menschen aus?

Alle Menschen haben unterschiedliche Geschichten, sind unterschiedlich aufgewachsen, haben unterschiedliche Verhaltensweisen gelernt. Das lässt uns in derselben Situation unterschiedlich reagieren. Emotionale Reaktionen haben also immer mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun.

Haben Sie ein Beispiel?

Stellen Sie sich vor, Ihr Vater hat Sie immer angebrüllt, wenn er Fussball im Fernsehen schaute und seine Mannschaft verlor. Hören Sie später als Erwachsene eine Gruppe Fussballfans, kann es sein, dass Sie extreme Angst erleben, weil die Geräusche einen Reiz darstellen, den Ihr Gehirn mit dem Gebrüll des Vaters in Verbindung bringt. Es ist Ihnen möglicherweise nicht einmal bewusst, warum Sie in der entsprechenden Situation Angst empfinden. Ganz anders, wenn Ihnen wichtige Bezugspersonen grundsätzlich mit Wertschätzung begegnet sind, selbst wenn Sie einmal einen Fehler gemacht haben. Sie werden dann wahrscheinlich mit Gelassenheit reagieren, wenn Ihr Vorgesetzter Sie ins Büro bittet. Wurden Sie aber häufig mit Vorwürfen eingedeckt, dann klopfen Sie womöglich mit grosser Angst an seine Bürotür.

Emotionen sind individuell

Grundsätzlich gibt es nicht DIE Wut oder DIE Trauer. Dr. Monique Pfaltz: «Was wir erleben und fühlen, wenn wir beispielsweise von Trauer reden, ist sehr individuell und unterschiedlich.» Einzelne Emotionen lassen sich zwar beschreiben, anhand von typischen Reaktionen etwa wie höherer Pulsschlag, Muskelanspannung und so weiter. Dabei handelt es sich aber nur um eine Art Prototypen. Monique Pfaltz erklärt es mit einem Beispiel: «In der Schweiz haben Frauen zwar im Durchschnitt 1,44 Kinder. Man wird aber keine einzige Frau in der Schweiz finden, die tatsächlich 1,44 Kinder hat. Genauso verhält es sich mit Emotionen. Es mag zwar sein, dass bei Angst im Schnitt die Herzfrequenz um eine gewisse Anzahl Schläge pro Minute steigt. Wie stark sie ansteigt, ist jedoch individuell, und es kann sogar Menschen geben, bei denen sie sinkt.»

Kann ein Mensch seine Emotionen bewusst steuern?

Ja und nein. Die unmittelbare emotionale Reaktion läuft automatisch ab. Wenn Sie auf dem Waldboden eine Schlange sehen, reagiert Ihr Hirn sofort. Die Amygdala, ein Teil des limbischen Systems im Gehirn, sorgt innert Sekundenbruchteilen dafür, dass der Puls ansteigt, die Muskeln sich anspannen und so weiter, eine Angstreaktion setzt ein. Daneben gibt es eine langsamere, kompliziertere Route, die nicht direkt zur Amygdala führt. Dabei kommt zuerst die Hirnrinde, der Cortex, zum Einsatz. Diese jüngste Region des Hirns analysiert das Geschehen detailliert. Danach wird die erste unmittelbare Reaktion – in unserem Beispiel die Angstreaktion – gegebenenfalls angepasst. Wenn wir beispielsweise erkennen, dass die vermeintliche Schlange nur ein Stück Holz ist, ist keine Angst mehr nötig. Der Puls normalisiert sich, die Muskeln entspannen.

Gefühl und Emotion

Manche Forscher verwenden die Begriffe Gefühl und Emotion identisch. Andere, wie der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio, machen eine Unterscheidung, wie Dr. Monique Pfaltz erklärt. Damásio definiert Emotionen als Körperzustände wie ein heftig schlagendes Herz zum Beispiel. Die Gefühle oder Empfindungen sind die bewusste Wahrnehmung dieser Körperzustände. Beim Beispiel der Emotion «heftig schlagendes Herz» kann die bewusste Wahrnehmung, also das Gefühl, dann zum Beispiel «Angst» sein.

Aber diese Kontrolle funktioniert nicht immer?

Wenn wir in sehr intensive emotionale Zustände kommen, kann es schwierig sein, unser Verhalten zu kontrollieren. Normalerweise hat der Frontallappen im Stirnbereich die Kontrolle über andere Hirnregionen, unter anderem über die Amygdala. Wenn das funktioniert, verhalten wir uns sozial angepasst. Wenn wir aber in grossen Stress geraten, kann es sein, dass diese Kontrolle reduziert wird oder sogar ganz wegfällt. Dann wird unser Verhalten unmittelbar durch Emotionen gesteuert. Der Frontallappen verliert quasi seine Bremsfunktion.

Also wenn wir jemanden anschreien, obwohl er gar nichts Schlimmes getan hat?

Ja, und das tut uns dann womöglich später leid oder wir schämen uns dafür, weil wir es rational gar nicht erklären können. Aber es gibt auch Möglichkeiten, unsere Gefühle zu steuern. So können wir etwa langsam und tief atmen. Dadurch wird das parasympathische Nervensystem aktiviert, das für die Entspannung zuständig ist. Ein anderer Weg führt über die Gedanken.

Mit den Gedanken können wir Gefühle beeinflussen?

Die Gedanken haben Macht. Was wir erwarten, hat einen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen. Wenn wir mit dem Schlechtesten rechnen, kann das negative Folgen haben. Das zeigt die Geschichte mit dem Hammer sehr eindrücklich (siehe Kasten). Das Gute ist: Wir können trainieren, bestimmte Situationen realistischer zu betrachten, indem wir uns beispielsweise fragen, wie unsere beste Freundin die Situation einschätzen würde. Oft verschiebt sich dann die Perspektive und wir können anders handeln.

Der Mann mit dem Hammer

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschliesst unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüsste er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloss weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht´s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er «Guten Tag» sagen kann, schreit ihn unser Mann an: «Behalten Sie Ihren Hammer.»

Die Geschichte stammt vom österreichischen Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick

Ahmen wir Emotionen unseres Gegenübers nach?

Menschen imitieren schon als Neugeborene die Gesichtsausdrücke ihres Gegenübers. Es handelt sich dabei um einen automatischen Prozess, der als Mimikry bezeichnet wird und auch bei Erwachsenen stattfindet. Häufig läuft das sehr subtil ab und ist von aussen gar nicht sichtbar, aber im Labor können wir die feinen Muskelbewegungen messen. Manche Wissenschaftler vermuten, dass wir durch automatische Imitation von Gesichtsausdrücken besser erkennen, was unser Gegenüber fühlt. In Studien hat man die Gesichtsmimik von einem Teil der Versuchspersonen mit Botox unterdrückt. Diese Menschen konnten Gesichtsausdrücke anderer weniger gut erkennen als jene Versuchspersonen, die kein Botox gespritzt bekommen hatten. Die Forschung in diesem Bereich ist aber noch sehr jung. Der Gesichtsausdruck hat zudem einen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen. Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh hat es schön ausgedrückt: «Manchmal ist Ihre Freude die Quelle Ihres Lächelns, aber manchmal kann Ihr Lächeln die Quelle Ihrer Freude sein.»

Die Rolle der Hormone

Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Hormone Emotionen beeinflussen, wie Dr. Monique Pfaltz sagt. In einer Studie wurde beispielsweise Männern das Hormon Oxytocin verabreicht. In der Folge zeigten sie mehr Mitgefühl und empfanden intensivere Gefühle. «Auch Angst wird über Hormone gesteuert. Sehen wir etwas, was gefährlich sein könnte, schüttet der Körper die Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus, die den Herzschlag und den Blutdruck in die Höhe schiessen lassen, die Muskelspannung erhöhen und mehr Blutzucker freisetzen. All das hilft dem Menschen, schnell auf die Gefahr zu reagieren.»

Autorin und Redaktion: Bettina Epper
Wissenschaftliche Kontrolle: Dr. phil. nat. Anita Finger Weber
Quellen
  • Drogistenstern

  • Prof. Dr. Monique Pfaltz