So entwickeln sich Kinder gesund
Warum Kinder trotzen und weitere Antworten auf Fragen über Entwicklungsschritte von Kindern zwischen drei und sechs Jahren.
Trotzen, Plappern, Fragen … Kinder zwischen drei und sechs Jahren durcherleben riesige Entwicklungen. Danièle Zemp, ursprünglich Logopädin und seit mehr als vier Jahren Leiterin der «stiftungNETZ» im Kanton Aargau, über einzelne Bereiche dieser wichtigen Phase.
Frau Zemp: Was sind die grössten Entwicklungsmeilensteine zwischen drei und sechs Jahren?
Mit drei bildet ein Kind längere Sätze und gebraucht Wörter wie «Ich», «Du», «Ja» und «Nein». Es beginnt die eigenen Bedürfnisse und die der anderen bewusster wahrzunehmen. Und es fängt an, seinen Willen in Form von Trotzen durchzusetzen. Mit vier können Kinder ihre Gefühle und Bedürfnisse bereits besser regulieren und auch mal ein «Nein» akzeptieren. Weil Vierjährige auch anfangen, ein Verständnis für Ursache und Wirkung zu bekommen, stellen sie viele Warum-Fragen. Mit fünf und sechs Jahren können Kinder sich gut ausdrücken und Erlebnisse erzählen. Und es gelingt ihnen, sich in andere hineinzuversetzen, wodurch sie besser mit Regeln umgehen können.
Warum trotzen die einen stärker als die anderen?
Das Trötzeln ist eine Phase, die die meisten Kinder durchmachen und ein positives Zeichen. Es bedeutet, dass das Kind seinen Willen durchsetzen und Grenzen ausloten möchte. Es zeigt aber auch, dass das Kind seinen Bezugspersonen vertraut. Es weiss, dass diese sein unangenehmes Verhalten aushalten können und es trotzdem lieben. Die Stärke der Trotzreaktion hängt unter anderem vom Temperament des Kindes und von weiteren Faktoren ab.
Ist Temperament angeboren?
Die Wissenschaft ist sich uneinig wieviel angeboren und wieviel in sozialen Interaktionen gelernt ist. Temperament ist sicherlich teilweise als Eigenschaft einer Persönlichkeit genetisch bedingt, wird jedoch auch vom Umfeld und von den Interaktionen mit den familiären Bezugspersonen in den ersten Lebensjahren mitbeeinflusst. Haben Bezugspersonen ebenfalls viel Temperament, kann dies das Temperament des Kindes verstärken. Ein temperamentvolles Kind, das in einer sanften Umgebung aufwächst, kann dagegen ruhiger werden.
Manche können schon mit drei Schuhe binden, andere erst mit sieben. Warum?
Von Natur her entwickeln sich Kinder sehr unterschiedlich und jeder Entwicklungsbereich ist von unzähligen Faktoren abhängig. Eine Rolle spielen dabei die genetischen Anlagen, aber auch die Erfahrungen, die ein Kind sammeln kann, und was ihm vorgelebt wird. Die Reihenfolge der Entwicklung hingegen ist in vielen Entwicklungsbereichen klar festgelegt. Es ist beispielsweise nicht möglich, zu gehen, bevor man sitzen kann. Aber wie schnell ein Kind lernt zu gehen, oder ob es sich zuerst in sprachlichen oder anderen Belangen weiterentwickelt, ist individuell.
Manche Kinder gehen gewisse Entwicklungsschritte langsamer an als andere. Was raten Sie verunsicherten Eltern?
Nicht alle Kinder entwickeln sich gemäss Lehrbuch. Es ist bis zu einem gewissen Grad normal, dass das eine Kind für das Lernen gewisser Dinge mehr Zeit braucht als ein anderes. Abweichungen im Vergleich mit anderen Kindern können, aber müssen kein Hinweis auf eine Entwicklungsauffälligkeit sein. Sind Eltern beunruhigt, empfehle ich immer, sich an eine Fachstelle wie die Mütter- und Väterberatung, einen Kinderarzt, einen Früherziehungs- oder einen Logopädischen Dienst zu wenden, um Fragen zu klären. Die meisten dieser Angebote sind kostenlos.
Wann kann professionelle Beratung sinnvoll sein?
Sobald man sich über längere Zeit Sorgen macht. Wenn ein Kind beispielsweise ständig in Konflikte mit anderen Kindern gerät oder mehrmals pro Tag hinfällt, über lange Zeit sehr ängstlich ist oder stottert, können dies bis zu einem gewissen Punkt Phasen sein, die vorbeigehen. Im Zweifelsfall und bei längerer Dauer empfehle ich dennoch einmal mehr eine Fachperson zu kontaktieren als einmal zu wenig.
Danièle Zemp leitet die «stiftungNETZ» mit den Angeboten Heilpädagogische Früherziehung und Logopädie im Frühbereich. Die Organisation engagiert sich im Auftrag des Kantons Aargau kostenlos in acht Bezirken für Familien und deren Kinder im Alter ab Geburt bis zu sechs Jahren, die allgemein oder sprachlich-kommunikativ auffällig oder behindert oder aufgrund von belastenden Umständen gefährdet sind.
Was sind gute Voraussetzungen dafür, dass ein Kind sich gesund entwickelt?
Eine liebevolle Umgebung und Bezugspersonen, welche die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und adäquat darauf reagieren, sind sicherlich wichtige Voraussetzungen. Daneben sind aber auch altersgerechte Erfahrungen in einem geschützten Rahmen sehr wichtig. Das heisst, das Kind sollte Raum haben, um mit Neugier seine eigene Erfahrungen sammeln zu dürfen.
Brauchen Kinder Spielsachen?
Nicht unbedingt. Kinder können grundsätzlich mit allem spielen, was ihnen in die Hände fällt. Zum Beispiel mit einem Ast, Löffel oder Zug-Billett. Spielsachen sind je nach Material und Anwendungsmöglichkeiten für die Entwicklung aber auch anregend und fördern gewisse Fähigkeiten.
Wie entwickeln Kinder ein gesundes Selbstwertgefühl?
Das Selbstwertgefühl wird zu einem grossen Teil in der frühen Kindheit im familiären Umfeld geprägt. Eine wichtige Rolle spielen liebevolle Anerkennung und dass die Bedürfnisse, Initiativen und Bemühungen des Kindes wahr- und ernst genommen werden. So spürt ein Kind, dass es wertvoll ist.
Und ein gesundes Selbstbewusstsein?
Selbstbewusstsein ist das Wissen über die eigenen Fähigkeiten und Stärken. Ein «falsches» Selbstbewusstsein kann dann entstehen, wenn ein Kind oft gelobt wird, obwohl es nichts Besonderes getan hat. Es denkt dann, es sei per se in allem gut und wird erstaunt sein, wenn andere das nicht so sehen. Bis zu einem gewissen Grad ist Selbstbewusstsein aber auch ein Verhalten, das durch Vorbilder und Bezugspersonen geprägt oder als Charaktereigenschaft vererbt ist.
Brauchen Kinder Erziehung?
Ja und nein. Für mich bewirken Eltern viel mehr mit dem, was sie dem Kind vorleben, als mit dem, was sie sagen und anzuerziehen versuchen. Denn Kinder ahmen bewusst und unbewusst sehr viel nach. Gute Erziehung gestaltet das Zusammenleben aber auf jeden Fall angenehmer, weil sich das Kind so verhält, wie man es mag. Dies erleichtert soziale Interaktionen innerhalb und ausserhalb der Familie.
- Quellen
Danièle Zemp, Logopädin und Leiterin der «stiftungNETZ» im Kanton Aargau