Tibetische Medizin

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1. Definition

Die tibetische Medizin ist ein wichtiger Teil der tibetischen Kultur. Sie stellt eine Synthese aus den verschiedenen asiatischen Heilkünsten dar. Sie vereint Aspekte der indischen Ayurveda, der schamanischen Tradition der Bönpas, der persischen und chinesischen Medizin sowie der buddhistischen Lehre. Erde, Wasser, Feuer, Wind und Raum – über diese fünf Elemente steht der Mensch nach dem Prinzip der tibetischen Medizin im Kontakt mit der Welt und dem Universum. Herzstück der tibetischen Medizin sind pflanzliche Vielstoffgemische, die einen aus dem Gleichgewicht geratenen Körper und Geist ausbalancieren sollen.

2. Philosophie

Im Himalayastaat Tibet entwickelte sich ab dem 7. Jahrhundert ein eigenständiges Medizinsystem. Dieses basiert auf medizinischen Texten, die aus China und Indien nach Tibet gelangten. Ein Jahrhundert später wurde erstmals eine mehrjährige «internationale Konferenz» zu tibetischer Medizin abgehalten. Dutzende asiatische Ärzte haben daran teilgenommen. Seit dem 12. Jahrhundert gibt das «Gyüschi» als Grundlehrbuch der tibetischen Medizin. Das «Gyüschi» wurde im 17. Jahrhundert noch einmal revidiert, und blieb dann bis heute beinahe unverändert. Eine wichtige Wurzel in der tibetischen Medizin ist der Buddhismus. 1696 wurde auf Geheiss des fünften Dalai-Lama die erste auf tibetische Medizin spezialisierte Hochschule gegründet. Die tibetischen Ärzte kennen 84 000 körperliche und seelische Störungen, denen sie über vierhundert Krankheitstypen zuordnen.

Die tibetische Medizin ist stark im traditionellen tibetischen Buddhismus verwurzelt und hat dadurch auch eine spirituelle Bedeutung. Die Lehre ist ganzheitlich orientiert. Mentale und rationelle Überlegungen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Das Ziel einer Behandlung ist die Wiederherstellung eines Gleichgewichts im Körper. Dreh- und Angelpunkt der tibetischen Medizin ist das indische Dharamsala. Dort befindet sich der Hauptsitz der Exilgemeinschaft der Tibeter, und die 1961 vom Dalai-Lama gegründete Medizinschule Men-Tsee-Khang.

Grundsätzlich unterscheidet die tibetische Medizin zwei Ursachen von Krankheiten:

  • Die erste Ursache ist Unwissenheit, die dazu führt, dass man die Realität nicht erkennen kann. Infolge Unwissenheit können drei «Gifte» den menschlichen Geist stören: Dies Gifte sind Dummheit, Gier und Hass.

  • Die zweite Ursache liegt in den drei Körpersäften Luft, Galle und Schleim. Tibetische Ärzte gehen davon aus, dass alle Körperfunktionen von diesen drei Säften gesteuert werden. Sie bestimmen die Grundenergie des Organismus.

Neben den drei Körpersäften und den Sekreten (Schweiss, Urin und Stuhl) sind in der tibetischen Medizin sieben weitere Dinge von zentraler Bedeutung. Diese sind: Nahrung, Blut, Fleisch, Fett, Knochen, Mark und Samen.

Kurz zusammengefasst: Die tibetische Medizin geht davon aus, dass der Mensch nur dann gesund ist, wenn alle Körperbestandteile, Körpersäfte und Ausscheidungen im Gleichgewicht sind. Wenn diese Balance gestört ist, kann eine Krankheit entstehen. Ein Ungleichgewicht ist von verschiedenen Faktoren abhängig:

  • Ungünstige klimatische Einflüsse

  • Ungünstige Ernährung

  • Falsches Verhalten

  • Der Einfluss von Geistern

3. Plausibilität des Konzepts

Aus erfahrungsmedizinischer Sicht ist die Wirkung tibetischer Heilmittel unbestritten. Da es sich bei den Arzneien um ausgeklügelte Rezepturen von Vielstoffgemischen handelt, ist es jedoch nahezu unmöglich nachzuweisen, welche Bestandteile genau zur positiven Wirkung beim Menschen beitragen. Die tibetische Medizin richtet den Blick auf die Ursachen von Krankheiten und weniger auf die Behandlung von Symptomen. Bezüglich der Diagnosemethoden hat die westliche Medizin nach wie vor wenig Zugang zu den eher subjektiven Ansätzen der tibetischen Medizin.

4. Belege für die Wirksamkeit

Vor allem im Heilmittelbereich existieren mehrere klinische wie experimentelle Studien, die nach naturwissenschaftlichen Kriterien durchgeführt wurden. Unter anderem konnte die Wirksamkeit tibetischer Präparate aus Schweizer Herstellung nachgewiesen werden.

5. Anwendung

Grundsätzlich können mit tibetischer Medizin alle Erkrankungen behandelt werden. Ihr Schwerpunkt liegt allerdings nicht bei akuten Erkrankungen, sondern eher in der Therapie von chronischen und psychosomatischen Krankheiten, wie zum Beispiel: Kopfschmerzen/Migräne, Durchblutungsstörungen, Asthma, Magenbeschwerden, Angsterkrankungen, Depressionen, Schmerzzustände.

6. Selbstbehandlung

Tibetische Medizin verlangt ein breites Wissen und eignet sich nicht zur Selbstbehandlung. Einzig im Bereich der Kräutermedizin ist eine Selbstmedikation möglich. Die Padma AG im zürcherischen Schwerzenbach ist europaweit die einzige Firma, die pflanzliche Heilmittel auf der Grundlage tibetischer Rezepturen produziert. «Tibetische Arzneimittel gelten als nebenwirkungsarm. Die Komponenten einer Rezeptur sind so gewählt, dass sie sich einerseits gegenseitig ergänzen und potenzieren und andererseits unerwünschte Wirkungen ausgleichen», sagt Andrea Rüegg von der Padma AG. Die Herstellung entspricht international anerkannten Qualitätsstandards. Am bekanntesten sind deren Präparate gegen Durchblutungsstörungen und Verdauungsprobleme. Nähere Informationen erhalten Sie in Ihrer Drogerie.

8. Behandlung und Ablauf

Der tibetische Arzt kommt praktisch ohne Diagnoseinstrumente aus. Die Diagnose gliedert sich in drei Schritten: Zuerst befragt der Arzt den Patienten: Beschwerden, Alter, Beruf, wichtige Lebensumstände und Verhalten. Als Nächstes werden Gesicht, Zunge und der frisch gelassene Urin des Patienten untersucht. Dazu schlägt der tibetische Arzt den Urin mit einem Stäbchen um und achtet auf Schlieren- und Blasenbildung sowie auf den Geruch.

Zuletzt fühlt der tibetische Arzt den Puls des Patienten. Bei dieser Pulsdiagnose erfühlt er mit den mittleren drei Fingern den Puls am Handgelenk des Kranken. Der Zeigefinger des Arztes liegt auf der Haut, der Mittelfinger fühlt mit leichten Druck die Muskulatur und der Ringfinger drückt bis auf den Knochen des Patienten.

Diagnosetechniken wie die Zungen- und Pulsdiagnose sind jenen der traditionellen chinesischen Medizin sehr ähnlich.

Bei der Behandlung werden gestörte oder aus dem Gleichgewicht geratene Kräfte gezielt angeregt oder gedämpft. Dabei kommen verschiedene Massagetechniken, Akupunktur, Diäten, Verhaltenstherapien und tibetische Heilmittel zum Einsatz. Für den tibetischen Arzt steht an erster Stelle, dass der Patient sein Verhalten und seine Lebensweise verändert oder anpasst. Die medikamentöse Therapie ist zweitrangig.

Medikamente in der tibetischen Medizin: Diese bestehen in der Regel aus einem Gemisch von pflanzlichen, mineralischen oder auch tierischen Bestandteilen. In der Regel kommen diese sehr niedrig dosiert zur Anwendung. Unterschieden werden verschiedene Arzneimittelformen, darunter Abkochungen, Tabletten, Schleime, Medizinalbutter, Medizinalweine, Edelsteine und Kräuterzubereitungen. Welche Heilpflanze wie wirkt, wird vom tibetischen Arzt durch Riechen und Schmecken bestimmt.

9. Grenzen und Risiken

Die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten der tibetischen Medizin sollten eine schulmedizinische Behandlung nicht ersetzen, sondern ergänzen. Oftmals sind bei Krankheitsbeschwerden Diagnosemethoden (zum Beispiel Röntgen) oder Behandlungsstrategien notwendig, welche die tibetische Medizin nicht bieten kann. Vor allem bei lang anhaltenden oder akuten Symptomen ist die Abklärung durch einen schulmedizinisch ausgebildeten Arzt anzuraten.

Nebenwirkungen: Wie alle Medikamente können auch tibetische Heilmittel Nebenwirkungen auslösen, zum Beispiel allergische Reaktionen. Da die tibetischen Arzneien aus einem Gemisch verschiedener Wirkstoffe bestehen, ist es im Fall von Nebenwirkungen meistens schwierig, die effektiv auslösende Substanz herauszufinden.

10. Zahlt die Krankenkasse?

Viele Krankenkassen leisten einen Beitrag an die Behandlungskosten im Rahmen ihrer Zusatzversicherungen, sofern die Therapeuten anerkannt sind. Nähere Informationen erhalten Sie direkt bei Ihrer Krankenkasse.

7. Anwender und ihre Ausbildung

Da weltweit nur rund zweitausend ausgebildete tibetische Ärzte praktizieren, sind folglich auch fundierte Ausbildungen in tibetischer Medizin rar. Einen mehrjährigen Lehrgang zum tibetischen Therapeuten bietet unter anderem die Schweizerische Interessens-Gemeinschaft für Tibetische Medizin an. Dieser umfasst rund siebenhundert Unterrichtsstunden und vermittelt ein ganzheitliches Verständnis der tibetischen Medizinlehre. Dennoch darf ein tibetischer Therapeut nicht mit einem tibetischen Arzt gleichgestellt werden.

Autor und Redaktion: Didier Buchmann
Quellen
  • Khenrab Gyamtso und Stephan Kölliker: «Tibetische Medizin», AT-Verlag, 2007

  • Dr. med Egbert Asshauer: «Tibets sanfte Medizin», Oesch Verlag, 2003

  • ig-tibetische-medizin.ch