«Krafttraining ist kein Sport»

Werner Kieser ist gilt als Vater des Krafttrainings. Im Gespräch mit vitagate.ch verrät er, warum sein Konzept niemals mehrheitsfähig werden wird, warum Krafttraining kein Sport ist und wie er die Evolution austrickst.

Natürlich trainiert er auch immer noch. Werner Kieser, Selfmademan, 75, Unternehmer, kommt, ein Handtuch locker über der Schulter, mit federndem Schritt in sein Büro im sechsten Stock des Cubus-Prime-Tower im Zürcher Industriequartier. «Ich habe mit 25 Jahren mein Hobby zum Beruf gemacht», sagt Kieser lachend. «Ich kann gar nicht in Rente gehen, weil ich nie gezwungen war zu arbeiten.» Die Kräftigung des Körpers ist seine Leidenschaft und Berufung. Schnell ist man in den Bann seiner Worte gezogen.

Mit Aufbau dem Abbau trotzen

Doch besser als graue Theorie ist die konkrete Anschauung, und so nimmt uns Herr Kieser mit auf eine kleine Tour. Das Studio, eines von sieben in der Schweiz, liegt eine Etage tiefer. Wenn Werner Kieser dort Gewichte stemmt, lässt sich keiner der Trainierenden in seiner Konzentration stören. «Sie zahlen und müssen dann hart arbeiten. Mein Konzept widerspricht eigentlich jedem sogenannten gesunden Menschenverstand und wird so nie mehrheitsfähig werden.» Das sagt er fast ohne Bedauern. Werner Kieser, der einst vom Magazin «Der Spiegel» als «Todfeind der Orthopäden» bezeichnet wurde, der die Wartezimmer leerfegen würde, ist sicher nicht altersmüde geworden. Ein wenig altersmild aber vielleicht schon.

Werner Kieser

Werner Kieser (75) hat eine Schreinerlehre gemacht. Mit 18 verletzt er sich beim Boxen und kommt so zum Krafttraining. Mit 26 eröffnet er sein erstes Fitnessstudio in Zürich, die Geräte entwickelt und baut er selber. Heute hat Werner Kieser 143 Studios in sieben Ländern, sieben davon in der Schweiz.

Zwei bis drei Trainingseinheiten pro Woche zu etwa 30 Minuten absolvieren die Kunden von Kieser-Training. Der Raum ist schmucklos. Maschine reiht sich an Maschine. Jede ist konzipiert zum Training ganz bestimmter Muskeln und Muskelgruppen. Trainiert wird jeweils bis zur lokalen Erschöpfung. Das Training umfasst den ganzen Körper. Ebenso wichtig ist die Erholungszeit. Mindestens zwei Tage müssen zwischen den Trainingseinheiten liegen. Sonst droht Kraftverlust durch Übertraining. «Krafttraining ist kein Sport», sagt Kieser. «Sport ist Verbrauch von Kraft. Bei uns betreiben Sie Aufbau von Kraft. Während der Dauer unseres Gesprächs gehen Abertausende von Zellen in unserem Körper zugrunde. Gleichzeitig werden Abertausende aufgebaut. Diesen Prozess nennt man Leben. In der Jugend überwiegen die Aufbauprozesse – wir wachsen. Im Alter überwiegen die Abbauprozesse – wir sterben. Mit Krafttraining stimulieren Sie die Aufbauprozesse und bleiben deshalb länger ‹jung›.»

Der Mensch ist eine Maschine

Viele sind misstrauisch gegenüber den Maschinen. Werner Kieser pflegt den Skeptikern dann jeweils zu sagen: «Sie selbst funktionieren wie eine Maschine. Sie sind eine Maschine. Unser Bewegungsapparat funktioniert ganz simpel. Zug und Gegenzug der Muskulatur. Wie ein Schiffssteuer.» Nicht alle lassen sich so schnell überzeugen. Ist ein Vitaparcours im Wald an der frischen Luft und das Training dort mit dem eigenen Körpergewicht nicht viel gesünder als ein Training in einer Betonhalle? Warum sollte ich ins Studio?

«Die Frage könnte ebenso lauten: Wozu muss ich ins Röntgeninstitut? Kann ich das nicht auch mit einer Taschenlampe machen? Die moderne Trainingstechnologie macht das Training nicht nur effizienter, sondern ermöglicht das Training von Muskeln, die mit Vitaparcours oder sonstigen Aktivitäten nur unzureichend oder gar nicht erreicht werden. Beispiele: Rotatorenmanschetten, Beckenboden, autochthone Rückenmuskeln und so weiter. Das sind aber Muskeln, deren Zustand für Ihren Bewegungsapparat und Ihre Gesundheit sehr wichtig ist.»

Die neueste Maschine ist für die Stärkung des Beckenbodens. «Nicht nur die Frauen trainieren diesen. Auch die Männer merken irgendwann, dass die Beckenbodenmuskulatur essenziell ist, wenn Prostatabeschwerden oder erste Zeichen von Inkontinenz sich bemerkbar machen – oder erektile Dysfunktion.» Grundsätzlich ist zu sagen: Mehr Frauen als Männer trainieren bei Kieser, so zeigt es die Statistik, und das Publikum ist älter als in anderen Fitnesszentren. Der durchschnittliche Kieser-Kunde ist gut gebildet, meist mit höherem Schulabschluss. Mit den Worten des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Bei Kieser trainieren aufgeklärte Menschen, «aus Einsicht in die Notwendigkeit».

Sollte man mit der Aufklärung nicht schon in der Schule ansetzen? «Viele Leiden, die wir haben, müssten nicht sein, wenn wir von klein auf den Bewegungsapparat aufbauen und warten würden. Das macht man nicht an den Schulen. Schulturnen war und ist eine Katastrophe. Immer noch ist es leistungsorientiert und nicht strukturorientiert. Ob Breiten- oder Leistungssport: Wir produzieren muskuläre Dysbalancen.» Werner Kieser erzählt aus den Zeiten seines ersten Studios vor über 40 Jahren und seinen Versuchen, Krafttraining an einer Schule im Kanton Zürich zu etablieren. «Sobald die Behörden ins Spiel kamen, lief die Idee ins Leere. Aufgrund dieser und vieler anderer Erfahrungen misstraut er den Behörden, Experten und Fachausschüssen und arbeitet lieber direkt mit den Leuten. «Nicht die Ärzte kamen zu mir, sondern die Patienten.»

Die Interessen der Evolution

Nicht nur die Institutionen sind ihm ein Dorn im Auge. Vieles, was unter dem Schlagwort «Ganzheitlichkeit» zeitgeistig daherkomme, gehört auf seine Liste mit «Unwörtern». Wellness, Modetrends und esoterische Heilsversprechen lenkten nur vom Wesentlichen, der Stärkung der Muskeln ab. Was Nahrungszusätze angeht, so hat er seine Meinung in den letzten Jahren aber geändert. «Kieser-Training verkauft weiterhin keine Zusätze, wie das alle anderen Fitnessstudios tun. Wir sind also keine Konkurrenz zu den Drogisten. Neue Studien zeigen aber, dass es sinnvoll sein kann, Kreatin, am besten kombiniert mit Magnesium, einzunehmen, da die körperliche Eigenproduktion von Kreatin ab dem 40. Altersjahr schwindet. Und grundsätzlich sollte der Eiweissanteil in der Ernährung erhöht werden zulasten der Kohlenhydrate. Das beste Protein ist das Molke-Protein. Und trinken Sie genug Wasser, aber nicht fünf Liter, zwei bis drei Liter genügen pro Tag».

In einem der Bücher von Werner Kieser steht der bemerkenswerte Satz: «Wir schonen unsere Alten zu Tode.» Was meint er zum Stichwort Alter?

«Die Evolution hat kein ‹Interesse› daran, dass wir älter als etwa 25 werden. Denn dann haben wir unsere Gene weitergegeben und unseren ‹Zweck› im Sinne der Evolution erfüllt. Durch das Training und die damit stimulierten Aufbauprozesse gelingt es mir und allen Alten, die trainieren, die Evolution etwas ‹auszutricksen›. Mit anderen Worten: Ich habe da und dort die typischen kleinen Wehwehchen fortgeschrittenen Alters – aber sie kümmern mich wenig, weil mich meine Muskeln noch immer sicher durchs Leben tragen.»

Autor: Felix Epper
Redaktion: Bettina Epper
Quelle
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